Es ist eine Erinnerungsflucht der besonderen Art: Die Installation »Weiße Kreuze« ergreift vor den Gedenkfeiern zum 25. Jahrestag des Mauerfalls die Flucht aus dem Regierungsviertel in Berlin. Die Mauertoten flüchten in einem Akt der Solidarität zu ihren Brüdern und Schwestern an die Außengrenzen der Europäischen Union, genauer: zu den heutigen Mauertoten. Hunderttausende Tote forderten die EU-Außenmauern seit dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Im Vordergrund der Eiserne Vorhang. Im Hintergrund lässt die Europäische Union den Erdboden für die neuste Generation der Überwachungstechnik ausheben. Am Boden hinter dem Weißen Kreuz liegt ein Kameramast, der Flüchtlinge im Rahmen von Eurosur aufspüren und der örtlichen Polizei melden wird.
Die Gedenkkreuze flüchteten vor dem Oktoberfestgedenken zu Menschen, deren Leben durch die EU-Außenmauern akut bedroht ist und erweiterten dadurch das selbstbezogene deutsche Gedenken um einen entscheidenden Gedanken: die Gegenwart. Im Slider folgen u.a. Eindrücke aus den Waldbergen von Gourougou vor Melilla.
»Eine verabscheuungswürdige Tat!«
»Diese sogenannte Kunstaktion ist in Wahrheit absolut geschmacklos und dumm.«
»Ein Fall von besonders schwerem Diebstahl«
»Ich finde die Aktion absolut zu verachten! In der wahnsinnigen Aufgabe des Mauerfalls haben wir Deutsche über ein totalitäres System diskutiert, das bei uns stattgefunden hat. Das in einen Zusammenhang zu setzen, finde ich eine schlimme Aktion.«
»Kunst ist keine Geschmacksfrage! Zynisch wirkt, dass die EU auch auf deutsches Betreiben den Einsatz zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer soeben reduziert hat.«
»Das eigentliche Problem sind nicht ein paar skrupellose Künstler, die keinen Hehl daraus machen, dass sie die offene Gesellschaft zerstören wollen. Das Problem ist, dass Politik und Medien sie in ihrem Treiben gewähren lassen.«
»Ein respektloser Akt gegenüber dem Gedenken der Mauertoten.«
»Ich kann verstehen, dass jede Möglichkeit genutzt wird, um auf das Leid an den EU-Außengrenzen aufmerksam zu machen.«
»Unfassbar, dass mitten im Regierungsviertel eine Gedenkstätte abtransportiert wird und niemand es merkt!«
»Diese Aktion setzt Mut und Phantasie gegen Unmenschlichkeit und bürokratische Phantasielosigkeit. Sie verbindet das Gedenken an die Berliner Mauer mit der aktuellen Realität von verzweifelten Flüchtlingen, die sich gegen die Barrikaden und Stacheldrahtzäune werfen. [...] ›Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr, ein gültiger Pass alles.‹ Diese Beschreibung von Flüchtlingsschicksal ist aktueller denn je in einem Europa, das sich gegen Flüchtlinge abschottet und den Tod von Menschen auf der Flucht billigend in Kauf nimmt.«
»Es gibt schon lange eine ausgeprägte Sehnsucht nach Wirklichkeit auf der Bühne. Hier findet ein künstlerischer Akt eine so resonanzstarke Rückkopplung in die Realität, dass man an Elfriede Jelineks Bonmot über Schlingensief denken muss, der ›den Herrschenden die Zustände wie eine Torte ins Gesicht‹ schleudere.«
»Dass der Berliner Innensenator und die Kulturstaatsministerin nicht den Unterschied zwischen Kriminalität und politischer Kunst kennen, ist nicht nur eine Lächerlichkeit, sondern zwingt einen geradezu zu sagen: Willkommen in der DDR! Wann hat es so etwas das letzte Mal gegeben, dass ein Innensenator einer Theaterdirektorin droht? Wie nennen wir solche Systeme, in denen das geschieht?«
»Die Weißen Kreuze sind gestohlen worden mit einer heldenhaften Attitüde und einer pseudohumanitären Begründung, die man für blanken Zynismus halten muss.«
»Seit dem Tod von Christoph Schlingensief vermisse ich immer wieder eine starke, provozierende Stimme in der Kunstlandschaft, die politisch interveniert.«
»Es geht um die Frage, in welchem Europa wir mit welchen Mauern und Grenzen leben wollen. In einem humanistischen oder pseudohumanitären. Ob wir gedenken oder weiter denken.«
»[...] der hirnrissigste Dreck, der in der jüngsten Zeit aus deutschen Theater gekommen ist [...]. Ursache für den Lärm um das künstlerische Nichts ist die notorische intellektuelle Selbstüberschätzung der Theaterleute. Ständig fühlen sie sich gedrängt, die Welt über Dinge zu belehren, die komplett außerhalb ihrer Kernkompetenz liegen.«
»Was die Aktion bewirkt, ist ein Beitrag zur Selbstaufklärung dieses Landes. Die Aktion behauptet nicht, dass es einfache Lösungen gäbe. Aber sie macht einen nicht gelösten Konflikt sichtbar zwischen moralischen Ansprüchen und demokratisch gewollter Realpolitik, die den massenhaften Tod von Menschen in Kauf nimmt.«
»Der Rat für die Künste bedankt sich beim [...] Gorki Theater [...], dass sie eine Kunstaktion unterstützt haben, die uns daran erinnert hat, dass Feiern und Rückschauen auf den 9. November 1989 nicht alles gewesen sein können. [...] Eine wichtige Lehre ist die Freiheit der Kunst, damit Politiker nie wieder in die Versuchung kommen zu bestimmen, was sie für opportun und zustimmungsfähig definieren, um damit ihre Politik zu illustrieren, während andere Kunstformen unterdrückt oder gar vom Staatsschutz verfolgt werden, wie gerade das Zentrum für Politische Schönheit.«
»Dieses Projekt ist aus Sicht von Freiheit von Kunst und Kultur nicht zu beanstanden. [...] Es ist ehrenwert, im Zusammenhang mit dem 9. November auf die heutige Situation von Flüchtlingen aufmerksam zu machen.«
»Das ist nicht dasselbe. Der Mauerfall ist ein abgeschlossenes historisches Ereignis. Natürlich kann man über Grenzen und Frontex-Zäune diskutieren – aber nicht so.«
»Das ist keine Kunst! Es hat nicht das Geringste damit zu tun, es ist nämlich völlig unüberlegt.«
Bundestagspräsident Norbert Lammert will in seiner Festtagsrede zum 25. Jahrestags des Mauerfalls eigentlich nicht das Oktoberfestgedenken stören. Aber peinlich: die Kreuze sind weg. Das muss er der Kanzlerin und den Abgeordneten dann doch beichten.
»Seit wir am Montag eine Pressemitteilung über die Aktion rausgeschickt haben, regt sich ganz Deutschland auf, dass 14 natürlich große und wichtige Symbole weg sind. Gleichzeitig sterben 24 Menschen im Flüchtlingsboot vor Instanbul, was eine winzige Meldung bekommen hat. Aber wir sind auf Deutschlands Titelseiten. Das reißt die Maske vom Gesicht der deutschen Gesellschaft. Jeder weint nur um seine eigenen Toten. Sobald jemand woanders herkommt, wird nicht mehr viel darüber nachgedacht. – Wir können den alten Mauertoten nur vollumfänglich gedenken, wenn wir auch den neuen Mauertoten gedenken.«
Chefin des Planungsstabs
Der Todesstreifen von Melilla bedroht das Leben hunderter Menschen (siehe Armverband und Kopfwunde), zu denen die Weißen Kreuze in die Wäldern Marokkos geflüchtet sind.
Die neuen europäischen Stacheldrahtmauern sind kaum zu ertragen. Während das offizielle Gedenkkartell sich darauf einstellte, dem Fall der Mauer vor 25 Jahren zu gedenken, schritten 100 Auserwählte unerbittlich auf die EU-Außengrenze zu, um diese kurzerhand wieder abzureißen. Zwei Fernbusse brachten 100 Friedliche Revolutionäre mit Bolzenschneidern und Akku-Winkelschleifern zur »Eindämmungsanlage« Bulgariens, um unmissverständlich eines klar zu machen: wir tolerieren den Bruch des internationalen Völkerrechts nicht.
Während das politische Berlin in einem Oktoberfest-Gedenken Ballons in die Luft steigen und nostalgisch-sedierende Reden abhalten ließ, wollte die deutsche Zivilgesellschaft in einem Akt politischer Schönheit die illegalen EU-Außenmauern zu Fall bringen und ein Stück Zaun als Souvenir nach Hause bringen. Der Aktion ging eine der erfolgreichsten deutschen Crowdfunding-Kampagnen voraus: in einer Rekordzeit von nur 5 Tagen wurden 39.000 Euro für Busse und Hotelunterkünfte der 2. Friedlichen Revolution eingesammelt.
Die Außengrenzen der Europäischen Union werden am Gorki-Theater – dem Theater des Jahres 2014 – verteidigt: bereits bei der Abfahrt umstellen Bundespolizei und BKA mit über 100 Mann das Theater. Begründung: »Sie rufen zu schweren Straftaten auf. Wir müssen gefahrenabwehrende Maßnahmen einleiten!« Es wird nach Bolzenschneidern gesucht. Die Zuschauer fahren dennoch (als Auftakt des Festivals Voicing Resistance) an »die längste Bühne der Welt«, um dort nach 25 Jahren eine neue Mauer zu fällen.
»Als vor 25 Jahren die Mauer fiel, war das nicht das Ergebnis kluger strategischer Schachzüge von Politprofis, sondern der Aufbruch einer Zivilgesellschaft. Ich habe lange gedacht, dass es diesen einfachen Bürgersinn in diesem Land nicht mehr gibt. In den letzten Tagen hat das Zentrum für Politische Schönheit bewiesen, dass es möglich ist, diesen Sinn zu aktivieren. Die Geschichte ist kein ruhiger Ort. Sie muss uns aufregen und belasten. Gedenken kommt schließlich von Denken. [...] Es wurde viel von unzulässigen Vergleichen gesprochen und oft gesagt, das eine (die Geschichte) habe mit dem anderen (der Gegenwart) nichts zu tun. Ich finde, wenn das wahr wäre, wäre es eine Katastrophe. – Der Reflex in der Politik, Kunst, sobald sie die Grenzen eines traditionellen Kunstbegriffs verlässt, nicht als Kunst anzuerkennen und für irre oder gar verbrecherisch zu erklären, macht mich betroffen. [...]
Wie sagt man in Deutschland so schön unfreundlich: ,Geht mit Gott aber geht‘. Ich würde sagen: geht mit wem auch immer, damit andere kommen können, ohne ihr Leben dafür riskieren zu müssen.«
Shermin Langhoff, Intendantin Gorki Theater
Die einzige weltweit nur von Björn Höcke anerkannte Terrororganisation. Wir machen für Sie Stress und radikalen Humanismus. Als Kompliz:in leisten Sie einen unschätzbaren Beitrag zur Erregung öffentlicher Unruhe. Sie erhalten nirgends so viel Aufruhr und Dissens für jeden gespendeten Euro wie bei uns.
Am 25. Jahrestag des Mauerfalls: Die Revolutionäre werden an allen Grenzen massiv in ihrer Reisefreiheit eingeschränkt, die Busse durchsucht und in Serbien, Bulgarien und Griechenland von der Polizei sogar durch das Land eskortiert. In Griechenland empfangen vier Busse Aufstandsbekämpfungstruppen die Revolutionäre und haben offenbar tagelang an der Grenze gewartet.
Zwei Bundestagsabgeordnete fragen im Deutschen Bundestag schriftlich zu den Hintergründen der vorauseilenden Repressionen gegen ein Theaterstück nach. Die Antworten offenbaren, dass das Bundesinnenministerium in sechs Ländern (inkl. Kosovo) für die Theateraktion warb und auch das BKA eingeschaltet war.
Ein Land im Ausnahmezustand: der Innenminister Bulgariens knüpft sein politisches Schicksal daran, dass die illegale EU-Außengrenze nicht abgebaut wird und beordert 5.000 Polizisten (Aufstandsbekämpfungstruppen aus Sofia) zum Schutz der Mauer in das Gebiet.
Im Bus der Auftritt eines Mitarbeiters des bulgarischen Innenministeriums, der die rechtlichen Konsequenzen der Maueröffnung aufklärt: illegaler Grenzübertritt wird mit bis zu fünf Jahren oder 150 Euro Geldstrafe geahndet. Die Geldsumme löst in den Bussen Heiterkeit aus: »Gebongt. Aber wir kriegen Rabatt, oder? Immerhin sind wir 100 Leute.«
Zähe Verhandlungen mit Bulgariens oberstem Grenzschützer, dem Chef der Border Police, der aus Sofia anreisen musste.
Spiegel Online Aktion zum Mauerfalljubiläum: Knackt die Festung Europa!
Tagesspiegel Wie die Mauerkreuze verschwanden
taz Mauertote versus Frontexopfer
The Guardian Art group removes Berlin Wall memorial in border protest
Zeit Kunst am Zaun
Vice Die neuen Mauertoten Europas
Tagesspiegel Lasst alle Hoffnungen fahren (Leitartikel), Grenzen müssen fallen,
Im Zweifel für die Freiheit, Mauerfall 2014?
art »Wir wollen noch nicht sterben!«
Berliner Zeitung Provokation an Europas Schmerzgrenze
taz Die Grenzen des guten Geschmacks, Künstler machen Bulgarien nervös,
Kreuze zurück - Polizei ins Theater?, Wo sind die Mauertoten?,
Freitag Grenzen einreißen
SZ Neue Aktion des Zentrums für politische Schönheit
The Local Stolen Berlin Wall memorial taken to Spain
rbb Gedenkkreuze für Maueropfer entwendet
Die Zeit Mauer-Kreuze entführt
Washington Post To some, the E.U.’s deadly border is the new Berlin Wall
Das letzte Nadelöhr nach Europa, die Landgrenzen zwischen der Türkei und Griechenland bzw. Bulgarien sind dicht. Mit dem Entschluss der bulgarischen Regierung zum Bau der sog. »Eindämmungsanlage« gibt es für Menschen in Not keine nicht-lebensgefährlichen Wege mehr in die Europäische Union. Im Hintergrund die erst zwei Monate vor dem 9. November 2014 in Betrieb gegangene Stacheldrahtmauer an der bulgarisch-türkischen Grenze.
DRINGEND GESUCHT: TERRORISTEN
Ich möchte Kompliz:in werden und mich zur politischen Schönheit bekennen.
Die Welt verkommt in Gleichgültigkeit. Dagegen gilt es, sich zu verschwören.
Das Zentrum für Politische Schönheit ist das ›Sturmgeschütz des Humanismus‹ und tritt an gegen Amnesty International und Pro Asyl, weil wir den Kampf um Menschenrechte radikaler führen wollen. Wir glauben, dass dieser
Kampf nicht mit Hashtags, Lichterketten und Online-Petitionen, sondern mit Fiktion und Fantasie gewonnen wird. Intelligente Aktionen, die zeigen, dass Moral der entscheidende politische Faktor ist.